In der Januarausgabe 2007 der Heimatzeitung "Riesengebirgsheimat" auf Seite 16 erschien der nachstehende Artikel:

Belgische Kriegsgefangene in Spindelmühle

von Jeannot Bartier

Mein Vater, Henri Bartier, geb. 05.04.1912, kam mit vielen anderen belgischen Soldaten am 25.05.1940 in Leie (Rivier) in der Nähe von Kortrijk in Belgien, unweit der Französischen Grenze, in Deutsche Kriegsgefangenschaft.

Zu Fuß gingen sie zunächst unter Bewachung in sechs Tagen über Ronse, Ninove, Halle, Waver, Gembloux nach Maastricht/Niederlande. Von dort aus brachte man sie am 31.05. in Viehwaggons – ca. 50 Gefangene je Waggon – nach Hemer bei Iserlohn in Westfalen (südöstlich von Dortmund). Hier kamen sie in das Stalag VI A [Bezeichnung für Kriegsgefangenen-Mannschafts-Stammlager]. Wie mein Vater sich weiter erinnert, wurden dort die flämischen von den wallonischen Kriegsgefangenen getrennt. Er selbst, ein Flame, erreichte mit weiteren KG am 07.06. das Stalag VIII A in Görlitz.

Wie er mir weiter berichtete, brachte man etwa 200 belgischen KG über Hohenelbe nach Friedrichsthal in die drei Kasernen. Eine Gruppe mit weiteren 250 Gefangenen, von denen noch Marcel Pauwels und mein Vater leben, brachte man im Deutschen Zollhaus, unweit der Spindlerbaude und in einer Baracke der Firma Chemische Werke Brieg, Abt. Straßenbau, unter. Zusätzliche 250 stationierte man in Baracken bei den Baberhäusern oberhalb Hains. Diese waren der Firma Plüschke Liegnitz zum Bau der neuen Spindlerpaßstraße nach Hain zugeteilt.

Drei Belgische Kriegsgefangene auf der Straße in Friedrichsthal.
Im Hintergrund Hotel Annahof/Bäckerei Erben, F41)

Mein Vater sprach auch davon, dass er den Weg Spindlerpaß – Friedrichsthal über die Brücke in der Ortsmitte mehrfach während seines Aufenthaltes gegangen ist. Aus seinen Erzählungen weiß ich weiter, dass es im Zollhaus wenig Wasser gab. Sie holten das für die tägliche Gesundheitspflege benötigte Wasser aus der Spindlerbaude.

Jedem KG war bereits in Görlitz eine Gefangenen-Nr. zugeteilt worden. Mein Vater bekam die Nr. 22388. Mit ihm waren u. a. folgende Männer im Zollhaus untergebracht: Emile Deneef 22410, Pieter Smedts 20725, Marcel Pauwels 22476, Robert Haegeman, Albert Eggermont 22434, Daniel Derudder 22399, Lambert Cremers 22533, Julien De Donder 22407, Fernand Coffijn 22446, Maurice Bruggeman 22405, Hector Van Campenhout. Mit den Familien dieser Belgier stehe ich in Kontakt.

Mein Vater erinnert sich noch gut an den überaus strengen und schneereichen Winter 1940/41. Mit seinen Mitgefangenen half er beim Schneeräumen der Straßen in Spindelmühle. Während dieser Zeit schliefen sie in einer Kaserne in Friedrichsthal, da es wegen des Wetters unmöglich war, zum Spindlerpaß zu gelangen. Sie erhielten "Kriegsgefangenen Lagergeld", Gutscheine, womit sie sich u. a. Brot in der Bäckerei kaufen konnten. Nach seiner Erinnerung musste er dafür von Friedrichsthal über die Brücke gehen, um kurz danach zur Bäckerei zu gelangen [es handelte sich wohl um die Bäckerei Knahl].

Aus umfangreichen Aufschreibungen von Herrn De Kempeneer, der in Friedrichsthal stationiert war, geht hervor, dass die dortigen KG in Gruppen von 10 bis 40 Mann zur Waldarbeit eingeteilt wurden. Er nennt die Gruppen: Ochsengraben, Planur, Siebengründe und Krausebauden. Die Gruppe "Ochsengraben" bestand aus 40 Mann. Bei den Waldarbeiten gab es nur einen Zwischenfall in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr: Als Herr De Kempeneer mit einem weiteren Gefangenen mit ihrem Schlitten, voll beladen mit Baumstämmen, in Krausebauden den Weg hinunterfuhr, sah er einen etwa 10jährigen Jungen, der mit seinem Hönerschlitten vor ihnen auftauchte, um vermutlich Einkäufe zu machen. Es gelang den Beiden, ihren Schlitten seitlich in den Schnee zu steuern und dadurch ein Unglück zu vermeiden. Dabei verletzte sich Herr De Kempeneer, der andere lief schnell nach oben um die nachfolgenden Schlitten zu stoppen und weiteres Unheil zu verhindern. De Kempeneer musste ins Krankenhaus gebracht werden, wo ihn genau am Neujahrstag 1941 die Mutter des geretteten Buben besuchte. Sie dankte ihm, und schenkte ihm einen großen, selbstgebackenen Kuchen.

Im Winter 1940/41 setzte man die KG beim Schneeräumen ein. Auch bei den Vorbereitungen für die Skiwettkämpfe waren sie beteiligt. Sie arbeiteten u. a. an der Sprungschanze. Auch an einer Tribüne [vermutlich Kampfrichtertribüne] war neben anderen auch Herr Tobac tätig.

Noch ein anderes Ereignis beschreibt Herr De Kempeneer im Detail: Ein älterer belgischer Gefangener war unter normalen Umständen in seinem Bett in der Kaserne gestorben. Zehn Mitgefangene durften ihn, unter Bewachung von zwei deutschen Soldaten, von der Kaserne in Friedrichsthal durch den Ort zum Spindelmühler Friedhof tragen. Den Sarg hatten sie mit den belgischen Farben angestrichen. Die Deutschen unterwegs grüßen den Sarg. Am Friedhof segnete der Pfarrer den Verstorbenen, der danach in das Grab hinunter gelassen wurde. Das Grab befand sich in einer, wie er schreibt, „abgelegenen Ecke des Friedhofs“. Nun passierte etwas Unvorhergesehenes. Einer der Gefangenen holte, zur Überraschung aller, unter seinem langen Mantel ein Horn hervor und spielte "te velde" [ein Abschiedslied, vergleichbar mit dem Lied "Vom guten Kameraden"]. Die Gefangen standen stramm, und die beiden Bewacher waren zunächst überrascht, nahmen dann aber Haltung an und präsentierten das Gewehr. Als sie in die Kaserne zurückkamen, wurden sie wegen des Liedes zur Rede gestellt. Sie erhielten als Strafe 24 Stunden kein Essen. Der Trompeter kam für drei Tage ins Lagergefängnis.

Die meisten belgischen Gefangenen konnten bald wieder in ihre Heimat zurückkehren. Aus den Unterlagen von Emile De Neef geht hervor, dass dieser bereits mitten im Winter das Riesengebirge verließ, da er in die Heimat entlassen wurde. Er schrieb in seinen Taschenkalender: "Heute, am 2. Januar, musste ich vom Spindlerpaß um 10.00h weg gehen und kam in Görlitz um 5.00h abends an." Er schreibt dann weiter: "Das Lager in Görlitz verließ ich am 08.01.1941, morgens um 08.30h; Zugabfahrt 12.30h". Die Fahrt ging über Antwerpen nach Brüssel. Am 11.01.1941 kam er in seinem Heimatort an. Sein Entlassungsschein ist in Görlitz ausgestellt und trägt das Datum vom 08. Januar 1941. Der Entlassungsschein meines Vaters, Henri Bartier, trägt gleichfalls das Datum vom 08. Januar 1941. Er hat Görlitz jedoch an diesen Tag noch nicht verlassen; er kam am 14.02.1941 nach Hause.

Mein Vater erinnert sich auch, dass er in der Kaserne in Friedrichsthal weitere belgische Kriegsgefangene traf, u. a. Robert Vienne, René Loosvelt, Marcel De Kempeneer und Alphonse Joseph Tobac. Die beiden Letzteren waren zwei der fünf Berufssoldaten und wurden deshalb nicht entlassen.

Herr De Kempeneer wurde anschließend einem Bauer in Hohenelbe zugeteilt. Er gab an, dass er es dort sehr gut hatte. Nach Kriegsende wollte "sein" Bauer seinen Hof nicht an die Tschechen hergeben. Er wurde deshalb gefangen genommen, kam sehr krank zurück und starb kurz danach.

Unteroffizier Alphonse Joseph Tobac, geboren am 30.01.1915 in Neerwinden/Belgien, kam am 22.05.1940 in Kriegsgefangenschaft mit der Gefangenen-Nr. 21.584. Er ist zwar bereits am 16.01.2001 verstorben, ich konnte jedoch seine Enkelin An Tobac ausfindig machen, die mir Informationen und Dokumente Ihres Großvaters zur Verfügung stellte. Darauf basieren die Informationen über seine Zeit als Kriegsgefangener. Am 21.06.1940 brachte man Herrn Tobac in das Stalag VIII A in Görlitz. Er erreichte am 12.07.1940 im "Kommando 3101" Spindelmühle, blieb in Friedrichsthal bis 24.10.1941 und arbeitete in der Pension Altheide, Spindelmühle 142, die der Familie Standera gehörte.

Anschließend wurde er dem "Kommando 3121" in Arnau zugeteilt. Hier arbeitete er bei einem Bauern, vermutlich namens Schröder, und auch in dem Lungenheil-Sanatorium. Am 24.09.44 brachte man ihn zurück ins Stalag VIII A nach Görlitz, wo er am nächsten Tag ankam und hier bis 12.01.45 blieb. Am 14.01.45 gelangte er ins Stalag VIII B in Lambsdorf/Schlesien. Bereits am 22.01.45 war die Evakuierung dieses Lagers, da die sowjetische Armee anrückte. Auch diesen Marsch führte Herr Tobac in seinen Notizen genau auf. 153 KG machten sich auf den Weg nach Westen. Nach mehr als zwei Monaten und 800 Kilometer Fußmarsch von Schlesien durch Böhmen, davon etwa 475 km im Schnee, kam er am 23.03.1945 nach Amberg in Bayern mit nur noch 35 Mitgefangenen an.

Von dort muss er wohl noch am gleichen Tage von der Amerikanischen Armee nach Ludwigsburg gebracht worden sein. Dort befanden sich nach seinen Aufzeichnungen in zwei großen Lagern SA-Offizieren und Gestapo. Im Dienst der Amerikanischen Armee stand er bis 21.06.1945. Erst an diesem Tag – nach fünf langen Jahren fern der Heimat – konnte er die Heimfahrt über Straßburg, Namen/Belgien und Antwerpen antreten.

Frau An Tobac besuchte Frau Diessner (Tochter von Familie Standera) in Lindau am Bodensee. Übrigens, ich brachte meinem Vater von meinem Besuch im Riesengebirge im August 2004 eine Flasche Wasser aus einer Quelle hinter der Spindlerbaude sowie einige Steine von seiner Arbeitsstelle am Spindlerpaß mit.

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